Wo der Himmel tiefer hängt

Eine Reportage aus einem Tag im Leben von André Marty aus dem Jahre 2009.

André Marty streicht sich mit der rechten Hand durchs blonde Haar, seufzt und sagt: “Es würde Sinn machen, das Wort Frieden einfach aus dem Sprachrepertoire zu streichen, dann ist man nämlich nicht permanent so enttäuscht, wenn man keinen Fortstritt bemerkt!” Er sitzt in einem braunen Honda - neben ihm sein Kameramann Jean-Marc Zylbering , der zugleich der Fahrer ist. Vor ihnen die lange Autostrasse, die Tel Aviv mit Jerusalem verbindet. «Das heisst nicht, dass Frieden nicht möglich wäre, denn wer hätte vor ein paar Jahren noch gedacht, dass sich Israel weitgehend aus dem Gaza-Streifen zurückziehen würde?», fragt André Marty, 43, Nahost-Korrespondent des Schweizer Fernsehens SF. Er trägt eine schlichte Brille, ein hellblaues Hemd, kakigrüne Leinenhosen und schwarze Ledersandalen. Seit fünf Jahren lebt er nun mit seiner Frau Mascha und der fünfjährigen Tochter Mila in Tel Aviv.


Weder die Palästinenser, noch die Israelis seien bereit aufeinander zuzugehen. Das Problem beginne bereits bei der Argumentation, dass alles so komplex sei, sagt André Marty. Er rümpft die Nase und starrt aus dem Fenster. Die Landschaft ist hügelig und voller Steine. Das einzig Grüne sind die Olivenbäume. Er ist auf dem Weg in die heilige Stadt Jerusalem – wo Christen, Juden und Muslime auf engstem Raum leben. «Religion ist in Jerusalem viel prägender als in Tel Aviv. Offenbar ist der Himmel hier einfach viel näher», sagt Marty nachdenklich. Müsste er in Jerusalem wohnen, so hätte er seinen Job als Nahost-Korrespondent wahrscheinlich nicht angenommen.


Heute trifft er sich mit Donatella Rovera von Amnesty International, um einen Tagesschau-Beitrag von einer Länge von 1.40 Minuten zu realisieren. Amnesty International hat einen Bericht veröffentlich, der Israelische Soldaten beschuldigt, während des israelischen Gaza – Krieges Anfang Jahr Zivilisten mutwillig verletzt oder gar getötet zu haben. Rovera, die diesen Bericht geschrieben hat, erwartet André Marty um 10 Uhr im Hotel Jerusalem.


Es ist 9.30 Uhr und die Strassen sind voller Autos. Trotz der Hektik herrsche eine momentane Ruhe, sagt Marty. Auf seiner Stirn sind Falten zu sehen und seine Finger hat er zu Krallen gekrümmt. «Im Moment ist es ruhig hier in Jerusalem, doch das kann sich innerhalb eines Bruchteiles einer Sekunde ändern, sobald sich die sogenannte Situation, wie es so schön heisst, wieder verändert.» Diese momentane Ruhe sei ein abgrundtiefes Misstrauen: Die Muslime und Juden pflegen so wenig Kontakt wie möglich zueinander, sagt er. Ein Auto hupt und in der Ferne hört man einen Helikopter in der Luft. Da sei er schon froh, in Tel Aviv zu wohnen.


Jean-Marc Zylbering fährt einen Hügel hoch, vorbei an weissen Häuschen mit flachen Dächern, wo Menschen wohnen, die ständig unter Spannungen leben. Es gebe einige Menschen, die in psychologischer oder gar psychiatrischer Behandlung landen, weil sie das Gefühl hätten, die Energien, die Jerusalem freisetze, lasse sie zum Messias werden, erzählt Marty. «Jerusalem Syndrom», so nenne man dieses Phänomen. Ob er diese Energien auch spüre? Ja, sagt er langsam, das spüre er.


Es ist 10 Uhr: Zylbering parkiert seinen Honda vor dem Hotel Jerusalem. Er packt die Kamera aus, Marty nimmt das Stativ. In der kleinen Lobby, die mit breiten Holzstühlen ausgestattet ist, bereiten sie das Setting vor. Donatella Rovera erscheint und André Marty bespricht das Vorgehen, bevor sie sich setzten. Auf seinem Hemd sind Bartstoppeln zu sehen - sein Gesicht ist nicht perfekt rasiert. Donatella Rovera erzählt, die Israelischen Soldaten hätten Gaza mit Hochpräzisionswaffen angegriffen und ihre Ziele dabei sehr genau gesehen. Besonders kritisiert sie den Einsatz von weissem Phosphor im Gaza-Streifen, einem der dichtest besiedelten Gebiete überhaupt. Amnesty habe den Staat Israel mehrmals zum Gespräch aufgefordert, bisher jedoch keine Antwort bekommen. Nach 10 Minuten beendet Marty das Interview mit der Frage, ob Frau Rovera noch etwas anfügen wolle, obwohl er sich bewusst ist, dass er für den Beitrag lediglich zwei Quotes à 20 Sekunden brauchen wird.


Eine halbe Stunde später sitzt er wieder im Honda neben seinem Kameramann. Sie fahren zum Aussenministerium, das sich ebenfalls in der Stadt befindet. Dort habe er noch ein Interview mit einem Sprecher des Staates Israels. «Ich bin der Meinung, dass die beschuldigte Seite auch zu Wort kommen muss. Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Mein Auftrag ist es, aus diesem extrem umstrittenen Feld, ob es sich nun um Kriegsverbrechen handelt oder nicht, einen Beitrag zu gestalten, in dem Position A und Position B erläutert wird. Und dann sollen Herr und Frau Schweizer vor dem Bildschirm überlegen, welches die glaubwürdigere Position ist», betont er. Als Journalist müsse man die gesunde Distanz wahren. Man dürfe sich nicht zum Sprecher einer Position machen lassen, doch die Gefahr, dass dies geschehe, sei extrem hoch. Es gebe genug Journalisten im Nahen Osten, die die Distanz nicht mehr richtig wahren, sagt Marty, verschränkt die Arme, verzieht das Gesicht und neigt den Kopf zur Seite.


Einige Minuten später hält der Honda vor einem langen Gebäude an. Auf dem Dach wehen Israelische Flaggen im Wind. Das Interview mit dem Sprecher findet draussen statt. Innen dürfen keine Filmaufnahmen gemacht werden und auch von Aussen darf man das Aussenministerium nicht beliebig filmen. «Wegen solchen speziellen Massnahmen braucht es mehr Zeit, einen Beitrag zu realisieren», sagt Marty und kratzt sich am Hinterkopf. Nachdem ein Sicherheitsbeamter die Presse-Ausweise von Marty und Zylbering kontrolliert hat, erscheint der Sprecher – ein rund 1.65 Meter grosser Mann mit schwarzen Haaren und einer spitzigen Nase. Er schimpft über den Bericht von Amnesty International und fragt, wer dahinter stecke und ob es die Hamas sei. Der Bericht sei ein Tribunal im Sowjet-Stil, keinerlei Transparenz bezüglich der Quellen!


Es ist 11.30 Uhr: André Marty und Jean-Marc Zylbering fahren zurück nach Tel Aviv. Die Worte des Sprechers waren hart und zeigen, dass dieser Krieg längst nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld geführt werde, sondern, dass es sich auch um einen Propaganda-Krieg handle. «Wir müssen uns bewusst sein, dass man versucht, uns zu missbrauchen. Manchmal kann ich es vermeiden, wahrscheinlich aber nicht immer», sagt er. Marty telefoniert mit seinen Kollegen und sagt, er brauche unbedingt Archivbilder vom Gaza-Krieg, solche die Zerstörung zeigen. Er sei auf dem Weg ins Schnittstudio. Sie sollen die Bilder schon mal digitalisieren. Er legt auf, streckt die Beine aus und gähnt. Ob er müde sei? «Unsere Tochter hat Scharlach -  die Nacht war kurz», so auch seine Antwort.


Nach rund 45 Minuten sind in der Ferne die Hochhäuser Tel Avivs und das Meer zu sehen. André Marty schnauft auf und sagt, dass ihn dieser Anblick beruhige. Tel Aviv sei eben schon viel entspannter als Jerusalem. Zum Teil schon fast pseudo-mässig cool – aber im Schnitt bedeutend relaxter. In Tel Aviv werde die Anspannung Jerusalems schon fast überkompensiert. Es sei also überhaupt nicht so, dass er das Haus nur in kugelsicherer Weste verlasse und am Abend mit der Familie in den Bunker schlafen gehe. Er führe ein ganz normales Leben, so wie er es in der Schweiz auch tun würde. «Tel Aviv ist nicht gefährlich. Das ist einfach nicht wahr», sagt er gereizt.


Kurz nach Mittag kommt André Marty im Studio an. Zylbering verabschiedet sich - sein Job ist für heute erledigt. Mit den Kassetten in der Hand geht Marty an seinen Schnittplatz, wo eine Kollegin diese entgegennimmt und sie am Computer einliest. Während dessen beantwortet Marty seine Mails. An der Wand hängt ein Bild, auf dem ein Snowboarder bei einem Sprung zu sehen ist: ein Werbeplakat der Kampagne «Meine Schweiz». «Da ich so oft hier bin, durfte ich mich ein wenig einrichten», erklärt er.


Um 15 Uhr erscheint Eynav: eine junge Israelin in Jeans, Shirt, Flip Flops und mit langen braunen Haaren und Sommersprossen im Gesicht. Sie fragt, was sie heute zu schneiden hätte. Einen Tageschau-Beitrag? Marty nickt. «Wie geht es dir?», fragt Eynav nachdem sie vor dem Computer Platz genommen hat. Es gehe so. Mila habe Scharlach und sie seien bereits beim Arzt gewesen, antwortet er. Mit Eynav sei er sehr eng, sagt der Journalist, dem ein gutes Verhältnis zu seinen Kollegen sichtlich wichtig ist.


Eynav schaut sich die Bilder von Jean-Marc und das Archivmaterial des Gaza-Krieges an und beginnt mit dem Grobschnitt, Marty schreibt seinen Off-Text und vertont diesen. Nachdem Eynav seine Stimme unter die Bilder gelegt hat, kann sie den Beitrag zu Ende gestalten. Um 18 Uhr ist er endlich fertig und muss nur noch per Satellit nach Zürich übermittelt werden. In wenigen Stunden sitzen Frau und Herr Schweizer vor dem Fernseher und können sich ihre Meinung zum Thema bilden - während dem André Marty, um sich zu erholen, mit dem Velo an den Strand fahren wird.


Ob er denn eine persönliche Meinung zum Konflikt im Nahen Osten habe? «Erstens spiele ich keine Rolle und zweitens: an dem Tag, an dem ich eine abschliessende Meinung hätte, würde ich die Koffer packen und verschwinden!», antwortet er und schliesst die Tür hinter sich.